Intensivierung von Elternschaft: Familien brauchen eine ambitionierte Zeitpolitik

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Ein Kommentar zum 9. Familienbericht „Eltern sein in Deutschland“

„Gestiegene Anforderungen“ „bei wachsender Vielfalt“. Das gilt nicht nur für Elternschaft heute, sondern auch für den Versuch, einen über 500-seitigen Familienbericht in einem kurzen Beitrag zu kommentieren. Der Neunte Familienbericht ist eine Fundgrube, dessen Informationsfülle noch lange Stoff für familienpolitische Diskussionen liefern wird. Allein schon dafür ist der Sachverständigenkommission zu danken. Ich beschränke mich heute auf einige Punkte, die mir bemerkenswert oder kritisch erscheinen. Einen Schwerpunkt setze ich beim Reformvorschlag zum Elterngeld.

Zunächst ist zu begrüßen, dass der Bericht die Eltern in das Zentrum seiner Analysen stellt. Der Bericht definiert Familienpolitik zu Recht als „Zukunftspolitik, die Eltern darin unterstützt, ihre Kinder […] auf die Bewältigung nicht nur gegenwärtiger, sondern auch zukünftiger Anforderungen vorzubereiten“ (S. 2). Die Familienpolitik richtet den Blick auf die Eltern, aber ganz im Sinne der Kinder. Dieser mittelbare Politikansatz entspricht der Wertung des Grundgesetzes. Das Grundgesetz räumt den Eltern das Erziehungsrecht nicht um ihrer selbst willen ein, sondern als „dienendes Recht“ zugunsten ihrer Kinder. Die Aufgabe des Staates ist es, die Eltern dabei zu unterstützen, dass sie dieser großen Verantwortung für ihre Kinder gerecht werden können.

In der Bezeichnung der Familienpolitik als „Zukunftspolitik“ ist ein weiterer wichtiger Aspekt angesprochen. Bei Familienpolitik geht es um die Zukunft der ganzen Gesellschaft. Es geht nicht nur um einen Teil der Gesellschaft, nicht „nur“ um acht Millionen Familien mit minderjährigen Kindern, sondern um die Zukunft von uns allen, um das Gemeinwohl. Die auf neue Beitragszahler angewiesene Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung ist hierfür nur ein Beispiel. Gerade weil die Leistungen der Familien gemeinwohlbezogen sind, können Familien von der Allgemeinheit Unterstützung und einen gerechten Ausgleich für ihre Leistungen erwarten. Familien sind Leistungsträger mit legitimen Ansprüchen. Sie dürfen daher selbstbewusst sein und auch Forderungen erheben, die Geld kosten.

Ausdrücklich zu begrüßen ist die detaillierte und differenzierte Auseinandersetzung des Familienberichts mit der These der „Intensivierung von Elternschaft“. Was viele Familien täglich spüren, ist hier begründet und belegt: Die Anforderungen an Eltern sind gestiegen und steigen weiter. Es ist beachtlich, dass die Eltern den Zeitaufwand für ihre Kinder in den letzten Jahren gesteigert haben, obwohl die Erwerbstätigkeit der Eltern – insbesondere der Mütter – im gleichen Zeitraum ebenfalls zugenommen hat. Ebenso bemerkenswert wie allen Familien bekannt ist der im Bericht geschilderte subjektive Eindruck einer zeitlichen Intensivierung von Elternschaft: Eltern haben „zunehmend das Gefühl ..., aus Zeitmangel ihre Kinder nicht so fördern zu können, wie sie es gern würden“ (S. 220). Richtigerweise leitet der Bericht hieraus ab, dass der „Zeitpolitik für Familien eine wesentliche Rolle“ (S. 220) zukommt.

Wovon der Bericht zu wenig spricht: Die Verantwortung für eine ambitionierte Zeitpolitik ergibt sich auch daraus, dass die Familienpolitik der letzten Jahre nicht unerheblich zu dem erhöhten Druck und der fehlenden Zeit der Familien beigetragen hat. Denn die Familienpolitik hat seit 2005 die Erhöhung des Erwerbsumfangs der Familien bewusst forciert: Das Elterngeld, das ElterngeldPlus und der Kitaausbau mit dem Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz fördern einen schnellen beruflichen Wiedereinstieg nach der Geburt der Kinder. Die Unterhaltsrechtsreform von 2008 hat dazu geführt, dass geschiedene Mütter keinen Unterhalt für sich vom anderen Elternteil bekommen, wenn das jüngste Kind älter als 3 Jahre ist. Auch verheirateten Müttern bietet seither allein die eigene Erwerbstätigkeit finanzielle Sicherheit. Die Bundesregierung schreibt in ihrer Stellungnahme zum Neunten Familienbericht, es sei „maßgebliches Ziel der Familienpolitik der letzten Jahre“ gewesen, „über Anreize für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bzw. für die Erhöhung des Erwerbsumfangs die wirtschaftliche Stabilität von Familien zu stärken“.

Man kann aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive eine Reihe von Gründen für die aktuelle Familienpolitik anführen: Bestrebungen nach Gleichstellung von Mann und Frau, Fachkräfte für die Wirtschaft, mehr Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträge, Bildung und Chancengleichheit für Kinder etc. Aber auch wer diese Politik im Grundsatz für richtig hält, wird konzedieren müssen, dass der Druck auf Familien enorm gestiegen ist. Das in den letzten Jahren etablierte Leitbild doppelter Vollzeiterwerbstätigkeit funktioniert noch am besten in der Ein-Kind-Familie. Ab zwei Kindern wird es schwierig. Für Mehrkindfamilien ab drei Kindern und Alleinerziehende passen die derzeitigen Rahmenbedingungen kaum mehr. Es ist kein Zufall, dass gerade bei diesen Familien die Armut besonders groß ist. Es ist Zeit, den Druck für Familien nicht noch weiter zu erhöhen. Es ist Zeit, den Familien zeitliche Freiräume zurückzugeben. Notwendig sind gesetzliche Maßnahmen, die Familien mehr gemeinsame Zeit ermöglichen.

Vor diesem Hintergrund enttäuschen die Vorschläge des Neunten Familienberichts für eine Reform des Elterngeldes. Wenn aus 12 Elterngeld- und 2 Partnermonaten künftig 3 plus 8 plus 3 Monate – in der Summe ebenfalls 14 Elterngeldmonate – werden sollen, erhalten Familien keinen einzigen Monat Elterngeld mehr als bisher. Der Vorschlag ist auch deswegen erstaunlich, weil derzeit nicht nur SPD, GRÜNE und LINKE, sondern auch CDU/CSU und FDP den Familien zusätzliche Elterngeldmonate versprechen. Die GRÜNEN und LINKEN wollen sogar insgesamt 24 Elterngeldmonate gewähren. Der Familienbericht bleibt weit hinter der politischen Diskussion zurück, obwohl er es sich hätte leisten können, ohne Rücksicht auf mögliche haushaltspolitische Einwände das aus Familiensicht Angemessene und Wünschenswerte zu beschreiben.

Die Aufteilung in 3 Müttermonate, 3 Vätermonate und 8 übertragbare Monate bedeutet auch eine Einschränkung für Mütter und Väter, die gerne ein ganzes Jahr beruflich aussteigen möchten. Möglich wären dann nur noch maximal 11 Monate für einen Elternteil. Ein Jahr für ein Neugeborenes ist aber keine lange Zeit. Der Familienbund hält die Möglichkeit, nach der Geburt ein Jahr für sein Kind da sein zu können, für das Mindestmaß, das nicht unterschritten werden darf. Wenn Väter motiviert werden sollen, mehr Monate als bisher zu übernehmen, müssen das zusätzliche Partnermonate sein. Wesentlich überzeugender wäre es daher gewesen, wenn sich die Familienkommission entschieden hätte, ein 4+8+4 Modell mit 4 Mütter-, 4 Väter- und 8 frei übertragbaren Monaten vorzuschlagen.

Wenig überzeugend ist auch das Konzept der zunächst erhöhten und dann nach 7 Monaten von 80 % auf 50 % absinkenden Lohnersatzrate. Das hiermit vermittelte Leitbild von höchstens 7 Monaten Elterngeld pro Person, ist ein unangemessener Eingriff in die Entscheidungsfreiheit der Familien. Aufgrund der sonstigen Rahmenbedingungen ist zudem nicht zu erwarten, dass Männer ihren Elterngeldbezug im selben Umfang ausbauen, wie Frauen ihn reduzieren würden. Im Ergebnis würden Familien höchstwahrscheinlich insgesamt weniger Elterngeld in Anspruch nehmen. Die Folge wäre weiterer zeitlicher Druck für Familien und noch weniger gemeinsame Zeit in der Familie. Notwendig ist das Gegenteil. Der Familienbund begrüßt das Anliegen, Väter zu mehr Familienarbeit zu motivieren. Das sollte aber durch das Angebot zusätzlicher Elterngeldmonate geschehen und nicht durch neue Abbruchkanten bei der Lohnersatzrate.

Die Kritik ist insbesondere auch durch soziale Erwägungen begründet. Studien zeigen, dass die symmetrische Aufteilung der Arbeits- und Familienzeit insbesondere von Familien mit hohem Bildungsniveau gelebt wird (vgl. Christina Boll, Die Arbeitsteilung im Paar, S. 37 ff.). Eine Familienpolitik, die einseitig dieses Modell fördert, hilft vor allem Akademikerfamilien. Berechtigte Anliegen der Gleichstellungs- und Väterpolitik sollten nicht zu Lasten sozialer Ausgewogenheit und gerechter Gleichbehandlung aller Familienformen verfolgt werden.

Aus sozialen Erwägungen ist für den Familienbund auch die im Bericht vorgeschlagene Anhebung des Maximalbetrages des Elterngeldes von 1.800 Euro auf 2.016 Euro nicht die oberste Priorität. Zwar erscheint bei jeder Familienleistung, die jahrelang nicht erhöht wurde, eine Anpassung schlüssig – zumal die Steuereinnahmen infolge der Inflation ebenfalls steigen. Zu beachten ist allerdings, dass das Elterngeld bereits eine markante Spreizung zwischen dem Minimal- und dem Maximalbetrag aufweist. Diese lässt sich aus der Systematik der Lohnersatzleistung begründen, unter anderer Perspektive aber auch als soziale Schieflage bezeichnen, weil hier – anders als überall sonst im Sozialrecht – der Grundsatz gilt: „Wer hat, dem wird gegeben“. In Anbetracht begrenzter Geldmittel und notwendiger Prioritätensetzung ist dem Familienbund die Anhebung des Mindestbetrags und die Gewährung zusätzlicher Elterngeldmonate wichtiger als die Anhebung des Maximalbetrags.

Bei der Berechnung der angemessenen Höhe des Mindestbetrags rechnet der Familienbund anders als der Neunte Familienbericht. Er hält den Gedanken für richtig, dass das Mindestelterngeld am sächlichen Kinderexistenzminimum orientiert werden sollte. Denn das Mindestelterngeld hat bei Einführung des Elterngeldes noch das gesamte sächliche Existenzminimum eines Kindes abgedeckt und wurde seit 2007 nicht erhöht. Im Jahr 2008 betrug das monatliche sächliche Kinderexistenzminimum 304 Euro (vgl. 6. Existenzminimumbericht der Bundesregierung). Für das Jahr 2021 hat der aktuelle Existenzminimumbericht der Bundesregierung ein monatliches sächliches Kinderexistenzminimum in Höhe von 451 Euro errechnet (vgl. 13. Existenzminimumbericht der Bundesregierung). Der Familienbund fordert deswegen, das Mindestelterngeld um 50 Prozent von 300 auf 450 Euro pro Monat zu erhöhen.

An dem Reformvorschlag zum Elterngeld, aber auch an dem Vorschlag zum „Einstieg in den Ausstieg aus dem Ehegattensplitting“ ist zu erkennen, dass der Neunte Familienbericht nicht mehr vom Konzept der Wahlfreiheit ausgeht, sondern von einem idealen Familienmodell mit symmetrischer Aufteilung der Erwerbs- und Familienarbeit, das gegenüber anderen Familienmodellen bevorzugt werden soll. Viele Familien wünschen sich in der Tat heute dieses symmetrische Modell. Es ist ein Modell, das im Einzelfall viele Vorteile bieten kann. Ein klares Leitbild von Familie mit Nachteilen für alle Familien außerhalb des Leitbildes hält der Familienbund dennoch nicht für angemessen. Vielmehr sollte der Staat Familien möglichst viele Optionen einräumen, damit sie das von ihnen gewünschte Familienmodell leben können und jede Familie bestmöglich gelingen kann. Offenheit für familiale Vielfalt sollte sich auch auf die Familienmodelle beziehen. Dass die Wahlfreiheit nicht immer und überall Realität ist, spricht nicht gegen die Wahlfreiheit als Postulat, sondern vielmehr dafür, familienformneutrale Familienpolitik zu betreiben. Bestehende Freiheiten der Familien sind zu erweitern, nicht einzuschränken. Zumal es weiterhin geltende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist, dass Art. 6 Abs. 1 GG Familien berechtigt, „ihre Gemeinschaft nach innen in familiärer Verantwortlichkeit und Rücksicht frei zu gestalten“.

Die Diskussion zum Ehegattensplitting kann hier aus Zeitgründen nur angerissen werden. Es ist zu begrüßen, dass der Neunte Familienbericht zwischen der Diskussion um die Steuerklassen III und V und der Diskussion um das Ehegattensplitting unterscheidet. Richtigerweise weist der Bericht darauf hin, dass die Steuerklassen mit dem Splitting – also der finalen Steuerbelastung des Ehepaares – nichts zu tun haben. Es ist also möglich, die Steuerklassen zu reformieren und zugleich das Splitting beizubehalten. Während man über die Notwendigkeit einer Reform der Steuerklassen streiten kann, hält der Familienbund die im Bericht vorgeschlagene Abschaffung des Ehegattensplittings nicht für sachgerecht. Das Ehegattensplitting stellt sicher, dass alle Ehen bei gleichem Gesamteinkommen und gleicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit gleich besteuert werden. Wer das Ehegattensplitting abschafft, beseitigt nicht etwa eine Bevorzugung des Alleinverdienermodells, sondern führt eine steuerliche Bevorzugung des Doppelverdienermodells ein. Das mag bei einem Verständnis von Familienpolitik als Arbeitsanreizpolitik konsequent erscheinen – richtig ist es deswegen noch lange nicht.

Wer unverheiratete Paare durch das Ehegattensplitting benachteiligt sieht, muss ich vor Augen führen, dass die Ehe nicht nur Vorteile, sondern auch Pflichten und Nachteile bringt. Ehen stehen in der rechtlichen Gesamtbetrachtung nicht besser da als unverheiratete Paare, sondern anders (Unterhaltspflichten, Anrechnung von Einkommen des Partners bei Sozialleistungen, im Trennungsfall Zugewinnausgleich und Versorgungsausgleich bei der Alterssicherung). Die Verfassung fordert daher auch keine Besserstellung der Ehe, verbietet aber die Schlechterstellung. Diese entstünde, wenn man der Ehe die Vorteile nähme und deren Nachteile beibehielte.

Zu widersprechen ist auch dem Vorschlag des Familienberichts, die beitragsfreie Mitversicherung für Ehegatten in der Kranken- und Pflegeversicherung abzuschaffen. Die beitragsfreie Mitversicherung ist faktisch nur noch eine Mitversicherung für die Mütter sehr junger Kinder. Diese Mütter unterstützen die umlagefinanzierte Sozialversicherung durch die Erziehung zukünftiger Beitragszahler. Das ist ein unverzichtbarer und kostenaufwendiger Beitrag. Eine Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge von Familien durch Abschaffung der Mitversicherung ist in diesen Fällen nicht angezeigt. Im Gegenteil: Familien müssen bei den Sozialversicherungsbeiträgen entlastet werden. Der gleichheitsrechtliche, vom Gleichheitssatz des Grundgesetzes ausgehende Blick auf die Steuern und Abgaben von Familien fehlt leider im Familienbericht.

In diesem kurzen Kommentar ist es aus den anfangs erwähnten Gründen nicht möglich, die vielen Punkte im Familienbericht zu nennen, denen ausdrücklich zuzustimmen ist. Nur kurz genannt seien hier die Forderungen zum Ausbau der unterstützenden Infrastruktur für Familien und zur Bekämpfung der Kinderarmut. Hier kann man über Details streiten, aber die Richtung stimmt.

Das Fazit meiner kritischen Anmerkungen ist, dass der Familienbericht eine Intensivierung von Elternschaft und einen hohen Druck auf Familien feststellt, aber politisch zu wenig neue Ideen entwickelt, wie dieser Druck gelindert werden könnte.

Ulrich Hoffmann

Präsident des Familienbundes des Katholiken